Abschied |
Ich stehe an Bord des großen Schiffes, an der Reeling. Um mich herum sind
viele, viele fremde Leute, die alle darauf warten, daß das Schiff endlich
ablegt.
Die Leinen sind bereits losgemacht, doch noch rührt sich das riesige Schiff nicht. Die Leute um mich herum sind voller Vorfreude, sind ausgelassen. Ich jedoch nicht, denn ich nehme Abschied von Dir. Meine Hände krallen sich um das Geländer, während mein Blick Dein Gesicht sucht, dort unter den vielen Menschen am Kai. So weit bist Du eigentlich gar nicht entfernt, doch es ist das letzte Mal, daß ich Dich sehen werde. Ein unbarmherziger Druck will mein Herz zerquetschen. Leere und Kälte dringt in meinen Körper ein. Erinnerungen werden wach, zeigen mir Bilder von damals. Es sind schöne Erinnerungen, doch sie verstärken den Schmerz. Jetzt habe ich Dich gefunden. Dort stehst Du, die Hände vor der Brust gefaltet, ganz vorne. Ich kann nicht sehen, ob Du weinst, aber ich fühle, wie meine Augen feucht werden. Warum bin ich an Bord dieses Schiffes? Es gab da einen wichtigen Grund, aber ich erinnere mich im Moment nicht daran. Das Ganze ist so unwirklich. Ich kann nicht mehr richtig denken, meine Gedanken werden vom Augenblick beherrscht.
Die lauten Hupen des Schiffes tönen, lassen kalte Schauer über meinen
Rücken laufen. Jetzt wird das Schiff gleich ablegen.
Ja, dieser Abschied ist endgültig, dieser Abschied ist wie ein Tod. Das
Ende des bisherigen Lebens. Nie wieder werde ich Dich wiedersehen. Immer weiter entfernt sich das Schiff vom Kai. Immer kleiner werden die Menschen dort, immer kleiner wirst Du, immer weiter entferne ich mich von Dir. Noch kann ich Dich sehen, aber Dein Gesicht kann ich schon nicht mehr erkennen. Aber ich kann es vor meinem geistigen Auge sehen, sehe Dich lächeln, lachen, freuen. Aber das ist nur noch Vergangenheit. Immer schneller wird die Fahrt des Schiffes. Du verschmilzt mit den vielen anderen Leuten, ich kann Deine Gestalt nicht mehr von den anderen unterscheiden. Ich weiß noch genau, wo Du stehst, aber sehen kann ich Dich nicht mehr. Ein Zittern durchläuft meinen Körper. Die Tränen nehmen mir die Sicht. Das Schiff dreht sich ein gutes Stück. Der Kai wandert aus meinem Blickfeld. Mein verweinter Blick wandert nun auf das offene Meer. Ich stehe jetzt alleine an der Reeling. Die anderen sind gegangen, unter Deck, in die Kabinen, irgendwohin. Ich aber, ich halte mich noch immer am Geländer fest und kann nicht loslassen. Meine Knie zittern. Noch einmal tauchst Du vor meinen Augen auf, doch es ist nur ein Bild. Noch einmal höre ich Deine Stimme, doch es ist nur eine Erinnerung.
Ich blicke auf das offene Meer. ©2020 Holger Thiele generiert aus "abschied.template" vom 28 07 2001 |